Reisebericht von Doris Meyer:
„Paris insolite – Paris mal ganz anders!“
Die DFG ging auch in 2014 wieder auf Reisen: „Paris insolite – Paris mal ganz anders!“, so lautete das Motto in der Ankündigung, und manch einer wird gedacht haben: Paris – na ja, das kennen wir ja schon. Allerdings lockte dieses „insolite“ doch dreißig neugierige, wohlgelaunte Reisende, unter ihnen auch mich, und da ich zum ersten Mal mitfuhr, hatte ich einen ganz unverstellten Blick auf diese Reise.
Mir fiel auf, wie unaufgeregt, aber effizient Catherine und Christine Rüppell die Organisation bewältigten: sei es, die teils chaotische Frühstückssituation in unserem ansonsten guten Hotel energisch zu verbessern, sei es, mit detailliert ausgefüllten Zettelchen bezüglich der zu benutzenden Metro-Strecke unser Trüppchen in den lauten, zugigen Gängen der Untergrundbahn zusammenzuhalten oder sei es, gute Laune angesichts der Unbilden des Wetters auszustrahlen. In dieser Hinsicht nämlich war Paris in diesem Jahr total „insolite“: Statt der üblichen Juli-Hitze mit schmelzendem Asphalt gab es Temperaturen zeitweise unter 20 Grad mit ergiebigen Regengüssen…, da suchte man im Koffer unter all den luftigen T-Shirts schon mal nach Wärmendem, und ein Kellner verabschiedete uns gar mit dem Vorschlag: „Revenez donc en été, ceci c´est l´hiver!“
Letztlich tat das der guten Laune aber keinen Abbruch, und während der Stadtrundfahrt am ersten Tag schien extra für uns die Sonne, die großen Wahrzeichen von Paris zeigten sich in ihrem Pomp und Glanz, und es machte einfach Spaß, diese imposanten Schönheiten wiederzusehen!
Unsere Stadtführerin, die ebenfalls Catherine hieß, verfügte über ein profundes Wissen zur französischen Geschichte ebenso wie zur aktuellen Politik und brachte uns das alles mit viel Charme näher. In exzellentem Deutsch erläuterte sie uns anfangs, wie Bercy und der Osten von Paris seit 20 Jahren systematisch entwickelt wurden. Zunächst entstand ein riesiges Sportstadion, dazu am Ufer der Seine das Wirtschafts- und Finanzministerium und später auf dem anderen Ufer der Seine die Bibliothèque Nationale. Dazu wurde der Wohnungsbau vorangetrieben, so dass aus dem vergessenen ehemaligen Hafengelände ein beliebtes Quartier für die „Bobos“ (bourgeois bohémiens) entstanden ist. Uns gefiel es dort so gut, weil die alten 1½-geschossigen Natursteinhäuser, die ehemaligen Lagerhäuser für Wein, der auf der Seine herbeigeschafft wurde, jetzt in nette Lokale und hübsche Boutiquen umgewandelt worden waren. Im Bercy Village traf man sich oft.
„Paris insolite“ – das bedeutete auch einen Stadtteil kennenzulernen, den man als Normaltourist eher selten besichtigt: Belleville im Nordosten, XXe arrondissement, auch „Babelville“ genannt wegen der vielen hier lebenden Ethnien. Stadtführerin Catherine ging mit uns durch kleine, steile Straßen, von denen eine z.B. für Graffiti-Bemalung freigegeben war, und sie zeigte uns Häuser vom Ende des 19. Jahrhunderts, die von kommunistischen Gruppierungen gebaut worden waren, wovon Hammer und Sichel in der Fassade zeugten, wo aber auch die Worte „travail“ und „science“ zu lesen waren, denn schon damals bot man Weiterbildungskurse an.
Belleville und Aufstände, das gehörte irgendwie zusammen, denn in den verwinkelten Gassen fanden die Aufständischen leicht Unterschlupf, verständlich also, dass Napoléon III hier viel abreißen ließ um breitere Achsen bauen zu können. Hier kamen wir auch an einen Platz, wo die letzte Barrikade der Pariser Kommune von 1871 gestanden hatte. Eine Gedenktafel ist errichtet und nicht weit entfernt auf dem Friedhof Père Lachaise erinnert „Le Mur des Fédérés“ an die letzten Aufständischen dieses Konflikts, die dort erschossen wurden. Nach diesem eher tristen Kapitel französischer Geschichte stiegen wir zur „Butte Belleville“ auf, wo uns ein phantastischer Blick über Paris entzückte.
Aber damit nicht genug des „insolite“. Im urigen kleinen Lokal „Vieux Belleville“ waren lange Tische mit karierten Wachstuchdecken für uns gedeckt, man saß nicht allzu bequem auf Gartenklappstühlen, doch das Essen sollte sich als recht gut erweisen und schon beim Apéritif stimmte uns ein Accordéon-Spieler auf die „Soirée Edith Piaf“ ein, die ja ein Kind dieses Viertels war. Eine Sängerin trug dann die bekannten Chansons der kleinen Piaf mit der großen Stimme vor, die wir zunächst nur trällern, später aber mit Hilfe der Textblätter mitsingen konnten. Mit fortschreitendem Abend stieg die Lautstärke durchaus an, Passanten kamen herein, nahmen ihren „petit rouge“ an der Theke und sangen mit, ein Rosenverkäufer trug auch zur Atmosphäre bei und der unbestreitbare gesangliche Höhepunkt war erreicht, als sich bei „Milord“ einige nach vorn auf die nicht vorhandene Bühne trauten! Beschwingt von Musik und Wein ging’s mit der Métro zurück zum Hotel, wo manch einen von uns das Endergebnis des Halbfinales der WM völlig perplex aufs Bett sinken ließ! Quelle belle journée à Belleville!
Für fast alle von uns neu war ein Besuch in Senlis nördlich von Paris, ein echtes Kleinod, an dem man bislang leider immer vorbeigefahren war. Senlis wird auch das „kleine Rom“ genannt, weil noch Teile einer gallo-römischen Arena aus dem 1. Jahrhundert sowie Reste der wuchtigen Stadtmauer aus dem 3. Jh. erhalten geblieben sind. Seit Hugues Capet in Senlis 987 zum König der Franken gekrönt worden war, hielten sich die französischen Könige gern hier auf, um in der Umgebung zu jagen.
Das heutige Senlis bietet ein einheitliches Stadtbild ohne Bausünden, wo selbst das Kopfsteinpflaster erhalten wird! Auch soziologisch ist Senlis interessant: hier gibt es kaum Industrie, daher kann man eher von einer Beamtenstadt sprechen, einer Stadt der „haute bourgeoisie“ gar, in der z.B. etliche Kuratoren des Louvre leben. So ist es durchaus üblich, dass der Ehemann unter der Woche in Paris in seinem Quartier im XVIe arrondissement lebt und nur das Wochenende mit der Familie verbringt. Die Kinder besuchen Privatschulen in Senlis, erzielen exzellente Ergebnisse, mit denen sie wiederum Aufnahme in die Grandes Écoles, die Elite-Universitäten, finden.
Es liegt gewiss an der Pferdeleidenschaft von Christine Rüppell, dass unser Besuch eine gewisse „note hippique“ bekam – auch dies „insolite“. Am Vortag hatten wir bereits die Ställe der Garde Républicaine besichtigt, wo meine Gruppe zusehen konnte, wie die Pferde für die Parade am 14. Juli auf den Champs-Elysées ausgewählt wurden. Die Tiere trainieren täglich eine Stunde und stehen ansonsten in ihren – zugegeben – komfortablen Ställen.
Von Senlis nun fuhren wir nach Chantilly mit seinem berühmten Marstall und dem Hippodrom. Ursprünglich gehörte es den de Montmorency, einer der mächtigsten Familien Frankreichs, in der etliche Männer den Ehrentitel „Connetable de France“ trugen. Später ging Chantilly in den Besitz der Condé über, der Vettern des Königs. Zu dem Schloss gehören riesige Ländereien, wovon allein der Wald 7000 ha groß ist, ein ideales Jagdrevier. Über 3000 Rennpferde stehen in den „écuries“ (unter ihnen auch die des Aga Khan!), und auf 150 km Trainingswegen können die Tiere trainiert werden für die wichtigen Rennen, die hier alljährlich stattfinden. Die Marställe entsprechen natürlich ganz dem fürstlichen Ambiente, und wir haben es genossen, in dieser edlen Umgebung eine Lehrstunde in der Dressur erleben zu können und von zwei zierlichen Reiterinnen vorgeführt und später auch erklärt zu bekommen, wie man ein Pferd dazu bringt, sich vor dem Publikum zu verneigen.
Inzwischen hatten wir Appetit bekommen, wussten wir doch, dass uns ein opulentes Picknick am Bus erwarten würde, das Catherine sehr liebevoll und großzügig ausgesucht hatte: köstliches Brot, diverse Fleischpasteten, Käse aus vielen Regionen Frankreichs, und dazu zapfte Alwin uns den Wein! Der Gute hatte zudem noch aus den Tiefen seines Busses ein Party-Zelt hervorgezaubert und aufgestellt, sodass wir die leckeren Speisen im Trockenen vertilgen konnten, denn leider, leider regnete es hier, und das sollten wir noch mehrfach erleben.
Es würde zu weit führen, alle Teile des Programms ausführlich zu besprechen, obschon sie es wert wären: die schönen Passagen von Paris, das Palais Royal oder das Marais-Viertel mit dem Musée de la Chasse et de la Nature…
Doch der Besuch von Rungis darf nicht unerwähnt bleiben, denn er war wirklich ein außergewöhnliches Ziel („insolite“, ich wiederhole mich!), das man als Einzelperson gar nicht ansteuern kann. Abfahrt um 4:30 Uhr in strömendem Regen und musikalisch begleitet von Jacques Dutroncs Klassiker „Paris s´éveille“, zu dem das Ehepaar Braune uns eine gelungene Übersetzung lieferte (merci à vous!), kamen wir noch rechtzeitig in der Fischhalle an, die schon seit 2:00 Uhr geöffnet war und um 6:00 Uhr schloss. Das riesige Areal von Rungis wurde 1969 fertiggestellt, weil die berühmten „Halles“ im Zentrum von Paris nicht mehr ausbaufähig waren und die Verkehrssituation schier unerträglich geworden war. 30.000 Menschen sind in diesem Großmarkt beschäftigt, wo Großhändler nicht nur aus dem Raum Paris, sondern auch aus Belgien, den Niederlanden und Deutschland einkaufen.
Außer der Fischhalle zeigte uns die Führerin die Hallen für Fleisch, für Käse, für fruits et légumes (wo es die netten Probierschälchen gab!) und für Blumen. Sie erläuterte die jeweiligen Besonderheiten und lud uns dann zu einem üppigen Rungis-Frühstück ein, bei dem sogar der Rotwein nicht fehlte! Danach war Ruhe im Hotel angesagt!
Am letzten Tag bot uns Catherine noch einmal „Paris insolite“ mit dem Besuch des „Musée des Arts forains“, wohin wahrscheinlich nicht nur ich mit recht geringen Erwartungen ging. Quelle erreur! In Bercy, ganz nah bei unserem Hotel, in den alten Natursteinhäusern, die als Lagerstätten für Weinfässer gedient hatten, konnte ein Sammler seine alten Karussells, Buden, Pferde und Figuren als Ganzes ausstellen. Sie stammen noch vom Ende des 19. Jahrhunderts und sind zum größten Teil aus Pappmaché gefertigt – eine wunderbar phantasievolle Sammlung! In der „Salle Vénétienne“ erklangen Opernarien, „gesungen“ von Figuren, die auf Balkonen standen und sich zur Musik bewegten. Doch waren wir nicht nur passive Besucher einer Ausstellung, denn wir konnten beim Spiel des Pferderennens Ehrgeiz entwickeln oder Karussell fahren auf Rössern oder Rädern, was besonderen Spaß machte! Der Reiz der Atmosphäre in dieser weltweit einmaligen Ausstellung sprang über, was an den allseits entspannten und fröhlichen Gesichtern abzulesen war.
Diese heitere Stimmung bewahrten wir uns für das letzte Abendessen in Paris auf, und es sollte ein besonders stimmungsvoller Abend in einem schönen Restaurant bei sehr gutem Essen werden. Der Clou: Das Bedienungspersonal bestand aus ausgebildeten klassischen Sängern, die zwischen den einzelnen Gängen des Menüs Kostproben ihrer Sangeskunst abgaben. Danach servierten sie wieder formvollendet an den Tischen. Dies war wirklich ein krönender Abschluss!
Ich möchte nicht schließen, ohne Alwin, den Eigentümer und Fahrer des Busses zu würdigen: Mit stoischer Ruhe lenkte er das große Gefährt durch die engen Straßen der Cité Universitaire, steuerte gelassen die Place Charles de Gaulle an, erwischte auch gleich die Avenue Marceau, ohne den Arc de Triomphe nochmals umrunden zu müssen, – doch in meinen Augen lieferte er sein Meisterstück an der Place Vendôme ab: Zur Rechten das Hotel Ritz im Umbau und großräumig abgesperrt, links die ebenfalls eingerüstete Säule, dazu Verkehr von drei Seiten, sodass Alwin zurücksetzen musste, um überhaupt um die Kurve zu kommen, die dann vielleicht 5 cm an jeder Seite zur Durchfahrt freiließ… Spontaner Applaus im Bus belohnte ihn nicht nur hier. Catherine war gleichfalls voll Bewunderung und manchmal direkt sprachlos angesichts von Alwins Nonchalance im Verkehr „C`est presque comme un Parisien!“ Gibt es ein größeres Lob?
An der Programmgestaltung hat mir besonders gefallen, dass trotz der Fülle des Angebots genügend Freiräume blieben um auf eigene Faust Besichtigungen in Paris unternehmen zu können, wo ja nicht zuletzt auch die „soldes“ in den Galeries Lafayette lockten!
Et à la fin un très grand merci à Catherine et à Christine!