Cholet 2016

Reisebericht von Dr. Sibylle Brüggemann:

Rückblick auf den Besuch in Cholet (04.05. – 08.05.2016)

Teilnehmer aus Cholet und Oldenburg (Foto: Jean-Luc Moreau)

Die Partnerschaft Cholet – Oldenburg besteht seit mehr als 30 Jahren. Die Stadt Oldenburg weist an ihren Eingängen unübersehbar darauf hin; aber sind diese Schilder wirklich mehr als ein Relikt aus vergangener Zeit, vielleicht schon ein wenig abgenutzt? Das Neben- und Miteinander von Franzosen und Deutschen in der Europäischen Union ist doch selbstverständlich, trotz gelegentlicher Konflikte nie in Frage gestellt. Es ist lange her, dass beide Nationen als „Erbfeinde“ galten; sehr bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs engagierten sich Einzelne, Franzosen und Deutsche, um mit der Gründung einer Deutsch-Französischen Gesellschaft dem überlieferten Feindbild entgegenzuwirken, Gräben zu überbrücken, Traumata zu überwinden; dahinter stand die damals wohl noch vage Vorstellung, europäische Nationen müssten ihre Gemeinsamkeiten erkennen, trotz bestehender Gegensätze zueinander finden; Franzosen und Deutschen fiel dabei eine besondere Verantwortung zu.

Die Deutsch-Französische Gesellschaft Oldenburg setzt sich seit mehr als dreißig Jahren im Rahmen ihrer Möglichkeiten für diese Ziele ein. Im jährlichen Wechsel besucht eine Gruppe die Partnerstadt; im vorigen Jahr empfingen wir die Vertreter von Cholet mit dem Bürgermeister an der Spitze, jetzt fuhren wir – 18 Oldenburger – vom 04. bis 08. Mai nach Cholet. Der Anfang unserer Fahrt löste nicht unbedingt Begeisterung aus. Um 4.15 Uhr startete unser Bus am ZOB, also zu „nachtschlafender“ Zeit. So menschenleer und ruhig hatten wir unser Oldenburg selten erlebt! Die Reise verlief ohne Komplikationen, in Düsseldorf erreichten wir ein Flugzeug der Air France, das uns nach Nantes brachte, wo wir von freundlichen Choletais herzlich empfangen wurden. Sie sorgten für den Transport ins etwa eine Autostunde entfernte Cholet. Dort fand die offizielle Begrüßung in der „maison des jumelages“, dem Haus der Partnerschaften, statt und wir trafen unsere Gastfamilien; zwischen manchen Gastgebern und Gästen besteht eine schon seit Jahren andauernde Freundschaft, andere kannten sich noch nicht, aber Offenheit und Herzlichkeit ließen keine Distanz aufkommen.

Für die folgenden Tage erwartete uns ein mit großer organisatorischer Sorgfalt und viel Verständnis für mögliche Oldenburger Interessen ausgearbeitetes Programm. So führte man uns am 05. Mai voller Stolz durch das neue Theater, zeigte uns auch die dazugehörigen Nebenräume einschließlich der technischen Anlagen. Die Unterhaltung dieses repräsentativen Baus kostet die Stadt jährlich 350.000 €, 16 Menschen finden hier einen festen Job. Dabei verfügt das Theater über kein eigenes Ensemble, sondern beschränkt sich auf Gastspiele. Die Reaktionen der deutschen Gäste fielen unterschiedlich aus: Einerseits bewunderte man die Perfektion des Gebäudes, andererseits meinte man, in dem schlichten, in Schwarz gehaltenen Raum könne keine festliche Stimmung entstehen; wieviel schöner sei doch das traditionell gestaltete, von Rot dominierte Große Haus des Oldenburger Staatstheaters. Auch der Besuch bei dem Künstler Michel Jouet löste nicht nur Begeisterung aus. Wir sahen „geometrische Kunst“, Linien, Rechtecke, Kreise nach logischen Prinzipien miteinander verbunden, Abstraktion ins Extrem gesteigert. Der Künstler sprach die Verbindung zu Oldenburg selbst an, indem er darauf hinwies, dass er 1992 in Oldenburg ausgestellt habe, ein Ereignis, an das sich unter den anwesenden Gästen offenbar niemand erinnerte. 

Am nächsten Tag lernten wir die Umgebung Cholets kennen; bei herrlichem Sonnenschein fuhren wir durch die von Weinbergen geprägte Landschaft; von der Qualität des hier wachsenden Muscadet konnten wir uns bei späterer Gelegenheit überzeugen. Die kleine Stadt Clisson, unser Ziel, hat ihr mittelalterliches Aussehen weitgehend erhalten. Sie wird von der beeindruckenden Silhouette der Burgruine überragt und in ihren pittoresken Straßen, deren Gebäude zum Teil auf das 13. Jahrhundert zurückgehen, fühlten wir uns in eine längst vergangene Zeit versetzt.

Clisson (Foto: Jean-Luc Moreau)

Die wechselvolle Geschichte der Herren von Clisson wurde uns erläutert und wir erfuhren, in welchem Maße Machtstreben und daraus resultierende Auseinandersetzungen über Jahrhunderte das Leben der Menschen bestimmten. Der sich anschließende Besuch der Domaine de la Garenne Lemot gab uns wiederum einen Einblick in die Geschichte, allerdings ganz anderer Art. Zwar gab es auch hier einmal mittelalterliche Verteidigungsanlagen, aber dem heutigen Besucher bietet sich ein Bild des Friedens. Im frühen 19. Jahrhundert schuf der Architekt Lemot, seit 1807 Eigentümer des Geländes, den heutigen Park. Angeregt durch Reisen in die Toskana ließ er 1812/1813 ein Gärtnerhaus mit einem Taubenturm errichten; es fügt sich in seine Umgebung so ein, dass sich Natur und Architektur in Harmonie miteinander verbinden. Wir erinnerten uns der Parallelen in Oldenburg: Die Maler Tischbein und Strack, ebenfalls an italienischen Vorbildern orientiert, arbeiteten für den Oldenburger Hof. Diese Kunst entstand hier wie dort vor dem Hintergrund gewaltiger historischer Umwälzungen: Aufstieg und Niedergang Napoleons fielen in diese Jahre, 1804 krönte er sich zum Kaiser, 1810 heiratete er die Habsburgerin Marie Louise und erreichte den Höhepunkt seiner Macht, danach scheiterte sein Russlandfeldzug, 1813 wurde er bei Leipzig besiegt und 1814 musste er sein Exil in Elba antreten. Diese Politik forderte von Franzosen und Deutschen einen gewaltigen Blutzoll. Für Deutschland endete 1806 das seit mehr als tausend Jahren bestehende Heilige Römische Reich, 1811 wurde Oldenburg von Napoleon annektiert, Peter Friedrich Ludwig lebte im russischen Exil, noch kurz vor dem Ende der Besatzung wurden 1813 zwei oldenburgische Kanzleiräte exekutiert. Es ist kaum vorzustellen, dass gleichzeitig ein Park von so unglaublicher Schönheit entstehen konnte.

Domaine de la Garenne Lemot (Foto: Jean-Luc Moreau)

Einen der Höhepunkte unserer Reise erlebten wir noch am Abend desselben Tages: Im Rathaus von Cholet eröffnete Bürgermeister Bourdouleix eine Ausstellung über Oldenburg. Auf langen Stellwänden war alles zu sehen, was Oldenburg aus der Sicht unserer Gastgeber kennzeichnet: Schloss und Lambertikirche, Lappan und Universität, Fußgängerzone und Radfahrer, Kohlfahrten und Horst Janssen, die Chronologie der Städtepartnerschaft, dazu eine Fülle von Fotos, die Begegnungen von Choletais und Oldenburgern zeigten; nichts fehlte, alles war mit unendlicher Mühe und Sorgfalt zusammengetragen. Chapeau!

Einen Tag später rückte noch einmal die Stadt Cholet in den Mittelpunkt. Wir besuchten mit unseren Gastgebern den riesigen Markt, der eine unglaubliche Fülle an Produkten der Region, an Lebensmitteln und Artikeln des täglichen Bedarfs bis hin zu Pflanzen und lebenden Tieren bietet und offensichtlich im Leben der französischen Bevölkerung eine größere Bedeutung hat, als wir es hier gewöhnt sind. Bei einer abschließenden Stadtführung wurden uns neben teilweise imponierenden Neubauten auch Reste des mittelalterlichen Cholet gezeigt, so die Burgmauer und mehrere alte Häuser; wir erfuhren, dass die alte Substanz leider „durch den Krieg“ zerstört sei. Durch den Krieg? Gemeint war der blutige Aufstand von 1793, als sich königs- und kirchentreue Einwohner der Vendée gegen die Republik erhoben. Bei uns, den deutschen Gästen, löste das Wort „Krieg“ ganz andere Assoziationen aus.

Bei der Besichtigung von Cholet (Foto: Jean-Luc Moreau)

Nachdem wir schon am Abend des vorangehenden Tages ein hervorragendes dîner genossen hatten, wurden wir auch am Tag unserer Abreise zu einem Essen eingeladen, das sich uns ganz unzutreffend als „Petit déjeuner“ präsentierte; noch einmal schlemmten wir „wie Herrgott in Frankreich“.

Schließlich brachten uns unsere Gastgeber zum Flughafen in Nantes; mit Zwischenlandung in Amsterdam erreichten wir Bremen, wo der Bus schon auf uns wartete; gegen 23 Uhr befanden wir uns wieder am Ausgangspunkt unserer Reise, dem ZOB in Oldenburg. Die in Cholet verbrachten Tage behalten wir in dankbarer Erinnerung. Die Frage, ob die Deutsch-Französische Gesellschaft und die Partnerschaft Oldenburg-Cholet heute noch Sinn haben, stellt sich nicht mehr; sicherlich müssen kaum noch Gräben überwunden werden, Traumata verschwinden mit dem Aussterben der Kriegsgeneration, aber Zuwendung, Offenheit und Freundschaft, wie wir sie erleben durften, können niemals selbstverständlich sein, sondern bedürfen des Engagements beider Seiten. Sind wir uns in Oldenburg immer dieser Verpflichtung und dieser Verantwortung bewusst?

Teilnehmer aus Cholet und Oldenburg (Foto: Jean-Luc Moreau)